Ursula Maria Wartmann: Alles passt!

aus: Konkursbuch 49 "heimat"

 

Hg. Corinna Waffender

www.konkursbuch.com

 

Heimat ist, was früher war, ist der Stallgeruch der Kinderstube. Heimat ist in der Chronologie eines Menschenlebens vielleicht gar nicht so sehr Ort, als vielmehr das Erinnern an diesen Ort und ein Damals: Die Zeit, in der man Kindheit erlebte, die Zeit der Eroberung der eigenen kleinen, großen Welt. Heimat ist sich erinnern an: Gerüche und Lieder. An Menschen und ihre Art zu reden. An erste Gebete zu einem Gott. Das Quietschen von Kreide auf Schultafeln. Erste Tragödien, erste Lieben. An Landschaften auch, Häuserschluchten vielleicht. Oder Fachwerkidyllen. An Spätzle, Spitzkohl, Heringsstipp. An gute Zeiten. Schlechte Zeiten. Und immer auch an den Verlust.

 

In Oberhausen, im westlichen, rheinischen Teil der Metropole Ruhr, hat acht Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg meine Wiege gestanden, und hier im Ruhrgebiet begann für mich die Endeckung der Welt. Hier sind meine Wurzeln. Hier wurden mir die Grundfertigkeiten beigebracht: Laufen, lesen. Sprechen, schreiben. Mit Messer und Gabel essen. Hier habe ich von meinem ersten Taschengeld an der Bude um die Ecke eine Tüte Pfefferminzbruch gekauft. Hier habe ich mein erstes Fünf-Freunde-Buch gelesen. Und hinter dem Schreibtisch meines Vaters die erste Ernte 23 geraucht. Hier habe ich als 14-Jährige am Bett meiner sterbenden Großmutter gesessen und ihr gelauscht, als sie, die knotigen Hände irrlichternd auf dem Bettüberwurf, von Pferdeschlitten im Schnee fantasierte und dem furchtbaren Tod ihrer Söhne im Krieg. Und hier stand das prachtvolle Jugendstilhaus, das mehr als alles andere auf der Welt für mich Heimat und dessen Verlust für mich eine der großen Tragödien in meinem Leben war.

 

Delfter Kacheln im Treppenhaus, das wuchtige geschnitzte Eichengeländer, blank poliert von den Hosenböden zahlreicher Kinder, Butzenscheiben, durch die auf dem Rücken von Staubbahnen eine bunte Sonne fiel. Große Räume mit hohen Fensterflügeln, Parkettböden, das Klavier in der Ecke, auf dem ich bei Familienfesten notdürftig durch irgendeinen Notendschungel stolperte. Ich liebte jeden Winkel dieses Hauses, das nach dem Tod meiner Großmutter veräußert werden musste, was für mich gewaltig und erschütternd war. Schon möglich, dass nachfolgendes Nomadenleben als Folge davon interpretiert werden kann.

 

Erst mit meiner Rückkehr nach über vierzig Jahren ist das Ruhrgebiet für mich Heimat im Sinn von Aufgehobensein, ein Zuhause, das durch die lange Abwesenheit an Wert gewonnen hat. Diese späte Liebe entstand in der Distanz und ist, vielleicht, leidenschaftlicher als das Gefühl derer, die es nie von hier fort getrieben hat. Ich liebe das Ruhrgebiet mit dem Selbst-Bewusstsein eines Menschen, der die Wahl hatte, der diesen Ort als Heimat erwählt hat – und eben keinen anderen. Der Ruhrpott und ich, das passt! Hier bin ich richtig und habe als Grundausstattung das im Gepäck, was man den Leuten hier gerne zuschreibt – hart aber herzlich, seien sie, und ausgestattet mit dem sehr direkten Charme der „Ruhris“, die Arroganz, Herrschaftsdenken und Dünkel nicht mögen. Zufall vielleicht. Vielleicht aber auch Ergebnis von Sozialisation im Sinn einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: So sind wir eben!

 

Meine Heimatstadt Oberhausen, eine Stadt, die sich Wiege der Ruhrindustrie nennt und die es erst seit anno 1874 gibt, wollte ich sofort nach dem Abitur verlassen, dringend, ohne Wenn und Aber. Denn das, was ich heute mit Überzeugung Heimat nenne, war für mich früher: Enge, Spießigkeit, Trostlosigkeit, dunkler Katholizismus. Nach der Schule 1972 zog ich sofort weg, zögerlich erst, in kleinen Schritten und noch nicht so ganz flügge: Erst Essen, dann Aachen. Im vierten Semester nahm ich mein Studium in Marburg auf.

 

Ich weiß noch wie gestern, was meinen Entschluss, ausgerechnet nach Hessen zu gehen, beeinflusst hat. Im Grunde wieder ein Gefühl von Erinnern, an eine Art Heimat aus zweiter Hand. Ich wählte die Stadt, aus der der Vater meiner Mutter kam: Marburg an der Lahn. Mein Großvater kam nicht direkt aus der Stadt, aber aus einem winzigen Dorf gleich nebenan, das fast den gleichen Namen trägt: Mardorf. Von dort lief er, eines von zehn Kindern einer mittellosen Bauernfamilie, der Legende nach zu Fuß ins Ruhrgebiet, um dort eine Maurerlehre zu beginnen.

 

Marburg also. Eine alte Frau, die im Krieg als Versorgerin der Familie meiner Eltern eine Rolle gespielt hatte – man hielt sich auf dem vergleichsweise sicheren Land im Hessischen häufiger auf und brachte von dort Lebensmittel mit nach Hause zurück – diese alte Frau also, die weitläufig zur Familie gehörte, nahm mich die ersten Wochen bei sich auf. So hatte ich Zeit, mir ein Zimmer zu suchen. Die Frau blieb mir fremd, so wie mir alles hier immer ein bisschen fremd blieb, obwohl ich es auch liebte: Dieser weiche Dialekt, der den Konsonanten die Schärfe nimmt, die romantische beschauliche Hügellandschaft, die adrette Fachwerkarchitektur. Ein Bild meiner Großeltern aus Oberhausen stand auf einer Anrichte in der guten Stube, und in den Gesichtern mancher Frauen im Dorf erkannte ich meine Tanten wieder und meine Mutter.

 

Dennoch waren Marburg, später Gießen, Friedberg oder das hessische Schwalmstadt nie das, was ich Heimat nannte; heimisch bin ich dort nicht geworden. Dabei ist es schön dort im Hessenland: Die Dörfer und Städte sind Kleinode, und im Frühjahr explodiert die Natur mit einer solch überbordenden Wucht, dass eine wehmütige Melancholie das Herz schneller schlagen lässt. Und doch – irgendwann waren die Dörfer und Städte zu schön, die Landschaften zu lieblich. Irgendwann kam mir das alles vor wie ein Freilichtmuseum, auf dessen Bühne ich eine Rolle spielte, die mit mir selbst nichts mehr zu tun hatte.

 

Ich war wieder rastlos. Wieder nicht angekommen. Ich musste weg, weiter suchen. Das Haus mit den Butzenscheiben, der bunten Sonne und den Delfter Kacheln gab es nicht mehr. Was genau also hoffte ich zu finden, und wo? Heimat vielleicht nur als Wunschtraum? Als Utopie?

 

Ich kam nach Hamburg, ein Zufall. Klar war nur, es sollte eine Großstadt sein. Möglichst groß nach all der Lieblichkeit. Möglichst laut, möglichst aufregend. Auch dreckig, egal, nur keine Puppenstube mehr. Es hätte Berlin werden sollen oder Frankfurt am Main, das waren meine Wunschkandidaten. Aber dann wurde es eben die Stadt, die sich selbstverliebt „Tor zur Welt“ nennt, und deren Image als Hafenstadt, als Drehkreuz von Sehnsucht, es – auch mir – erlaubte, Heimatlosigkeit als sentimentalen Dauerzustand zu etablieren.

 

Doch dann geschah gänzlich unerwartet das Wunder: Im meinem fünften Jahr in Hamburg fuhr ich nach längerer Abwesenheit die A 7 hoch, sah rechts die Kirche des untergegangenen Fischerdorfes Altenwerder und links die bombastischen Hafenkräne und riesigen Pötte. Und da war es plötzlich, dieses Herzklopfen. Ich war zurück, und ich war glücklich, zurück zu sein. Wahlheimat. Von da an war ich in Hamburg zu Hause.

 

Hamburg ist ein Dorf, sagen viele, die dort leben, und in der Tat ist Hamburg eine überschaubare Stadt, mit einem, im Gegensatz zu Berlin und der Metropole Ruhr, sehr klar definierten Zentrum und verschiedenen Stadtteilen, die, mal bürgerlich, mal studentisch, mal eher mondän, in sich relativ geschlossene Zirkel bilden. Im Zentrum der Stadt nicht weit vom Hauptbahnhof liegt die Alster. Wasser macht die Schönheit und den Reiz Hamburgs zu einem guten Teil aus; eine Kanal- oder Fleetfahrt ist ein Muss, wenn man die Stadt besucht.

 

Ich hatte das Glück, die letzten sechs Jahre in St. Georg zu leben, einen Steinwurf von der Alster entfernt. Wann immer ich mit dem Rad über die Kennedy-Brücke fuhr, von der aus ich einen Blick über die Binnenalster mit Rathaus, Michel und der Ruine von St. Nikolai und – rechts – über das weite Wasser hatte, empfand ich ein reines und tiefes Gefühl von Glück, das sich in all den Jahren nie abnutzte. Wenn es früh an einem hitzigen Sommertag noch dunstig war und die ersten weißen Segel geräuschlos über das Wasser glitten, fühlte ich eine große und wunschlose Dankbarkeit, inmitten dieser Schönheit ganz einfach auf der Welt zu sein. Heimat als Zustand – und in solchen Momenten schmerzte selbst frühe Verlusterfahrung nicht mehr.

 

Wo auch immer ich lebte: Mehrmals im Jahr hat es mich ins Ruhrgebiet zurückgezogen. Hier gab es noch Familie und eine Freundin aus Kindertagen, gelegentlich auch Klassentreffen. Wenn ich schon da war, war ich immer auch auf der Suche nach meiner verlorenen Zeit. Nach den Tagen, wenn wir Kinder, meine Schwester und meine Cousins und Cousinen, im Garten herumtobten, nackte Spatzenkinder begruben, die aus dem Nest gefallen waren. Nach den Sommertagen hinter dem Haus, wenn die Sonne durch die riesigen alten Kastanien fiel, und meine Großmutter nach der Sonntagsmesse die Onkel und Tanten zu einem Frühschoppen empfing. Nach den Rollschuhrennen auf der Straße. Dem Sausen der Eisenräder über den Asphalt.

 

Atem anhalten in den Ruinen stillgelegter Zechen.

 

Manchmal, wenn mich bei solchen Besuchen die Wehmut packte, setzte ich mich an den Kanal unweit von Schloss und Kaisergarten. Dann dachte ich daran, wie ich hier den Weltschmerz der Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen gepflegt hatte. Und kostete Erinnerungen lange und genüsslich aus, so wie ganz früher die Sterne aus Salmiakpastillen, die wir uns mit Spucke auf die Handrücken geklebt und genießerisch abgeschleckt hatten.

 

Und dann die Marktstrasse, die Haupteinkaufsstraße der Stadt! Ein Mekka bei jedem Besuch. Gekauft habe ich selten etwas; ich stromerte durch die kleinen Läden und großen Geschäfte, alle Sinne geschärft, mit neugierigen und, ja, auch sehnsüchtigen Augen und Ohren. Am meisten habe ich die Gespräche zwischen den Verkäuferinnen und der Kundschaft im Kaufhof geliebt. Ich lungerte mit Mitte zwanzig in einem alten US-Parka, dreckigen halbhohen Schnürschuhen und außerordentlich orangefarbenen Haaren wahlweise in der Schmuck- und Parfümabteilung oder bei den Miederwaren herum und war hingerissen, wenn blondierte Mittfünfzigerinnen in teuren Blusen quer durch den Saal zu einer Kollegin herüberbrüllten: Frau Overkamp, gezz hömma, wat sachse, kostet dat Teil hier vorne anne Rolltreppe? Ist heute Sonderangebot. – Wat sachse? – Dann lauf ma wacker rübber und frach den Dietma, der weiß sowat immer!

 

Ich starb vor Entzücken – wobei der Auslöser nur bedingt der Ort war. Auslöser waren die Sprache und die Leute, die sie benutzten. Und dabei diese ungemein charmante Widersprüchlichkeit verkörperten, die den Reiz der Ruhris von jeher ausmacht: Alles passt, weil eigentlich nichts passt!

 

Zurück nach Hamburg. Ein Stück weiter die Elbe hoch Richtung Wedel liegt das Willkommhöft – eine Schiffsbegrüßungsanlage, wo, wie der Name sagt, die Schiffe begrüßt oder verabschiedet werden, die in den Hamburger Hafen ein- oder auslaufen. Das Ganze läuft seit Jahr und Tag nach den immer gleichen Regeln ab: Ein Pott kommt oder geht, es wird die jeweilige Landesflagge gehisst und je nach Nationalität wird von einem mächtig scheppernden Band die dazugehörige Hymne gespielt. Es werden zudem Informationen gegeben: Baujahr, Herkunftswerft, Bruttoregistertonnen und dergleichen.

 

Das Café des Willkommhöft ist bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt, man sitzt dort und trinkt ein Bier oder einen Kaffee und guckt den Schiffen zu, die in stetem Wechsel ein- oder auslaufen. Bei der deutschen Nationalhymne werden gerne auch alte Haudegen weich. Ich habe dort schon Herren in ihren Erdbeerkuchen weinen sehen, denen man feuchte Augen nicht einmal am Grab ihrer Mutter zutrauen würde. Fraglos wurden sie von Heimatgefühl überwältigt – einem Gefühl jenseits der engen Grenzen von Geburtsort und Sozialisation – das sich auf Deutschland insgesamt bezog. Diese Art von Heimatgefühl ist, wie hinlänglich bekannt, anfällig für Missbrauch und kann gefährlich werden. Es ist auch bekannt, wohin das führen kann – überall auf der Welt. Aber: Wir alle sind Ausländer. Fast überall. Wer diesen Spruch verstanden hat, weiß, wie absurd Kirchturmdenken ist. Und wie fragwürdig Gefühlsduselei. Dass in meinem Fall der Ort, wo ich nach einer langen Odyssee nun wieder angekommen bin, mit dem Ort von Kindheit und Jugend identisch ist, ist Zufall. Es hätte Hamburg bleiben können, vielleicht; vielleicht – wahrscheinlicher – wäre es dann doch noch einmal Berlin geworden, eine Stadt, in der die Menschen mir so vertraut vorkommen, weil sie so ähnlich „ticken“ wie die Menschen in der Metropole Ruhr.

 

Die WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung – titelte im März 2010: „Liberale Moslems formieren sich“. Lamya Kaddor, Islamkunde-Lehrerin aus dem Ruhrgebiet, die auch als Buchautorin (zuletzt mit: „Muslimisch, weiblich, deutsch!“) von sich reden machte, hatte, wie man im Ruhrgebiet sagt, den Kaffee auf. Von den bekannten Islamverbänden fühlte sie sich ausdrücklich nicht vertreten und wollte einen neuen Dialog begründen. „Wir sind“, wurde sie zitiert, „eindeutig in Deutschland verortet, es gibt kein weiteres Land, in dem wir uns heimisch fühlen.“

 

Wissen wir, dass uns Lamya Kaddor ein Kompliment damit gemacht hat? Verortung ist nichts anderes als Heimat, und Heimat ist dort, wo man richtig ist, wo man „stimmt“. Wo man fühlt, dass man stimmt. Eine Freundin schreibt: „Manchmal breitet sich in mir ein großes, beschützendes Nichts aus, und dann weiß ich, ich bin auf der Welt zu Hause.“ Schutz, Sicherheit, Geborgenheit – das alles ist Heimat auch. Der Berliner Schriftstellerin Nelly Sachs, die als Jüdin noch im Mai 1940 dem Holocaust knapp entkommen und nach Schweden fliehen konnte, wurde 1966 der Literatur-Nobelpreis verliehen. In ihrer auf Deutsch gehaltenen Dankesrede zitierte sie aus einem ihrer Gedichte:

 

 

An Stelle von Heimat

 

halte ich die Verwandlungen der Welt -

 

Heimat im Sinne von Aufgehobensein, Heimat als Ort, als Hort von Sicherheit gab es für Nelly Sachs nach der Vertreibung nicht mehr. Vielleicht würde ihr Trost spenden, was im Frühjahr 2010 die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood sagte, der in Dortmund der Nelly-Sachs-Preis verliehen wurde. In ihrer Dankesrede verwies Atwood auf die herausragende Bedeutung von Nelly Sachs. Sie verstehe den Preis wie eine Fackel, die nun sie selbst für zwei Jahre tragen und deren Licht sie im Sinne der Dichterin zum Leuchten bringen werde. Auch das kann Heimat im Sinne von Behausung schaffen sein – das Licht einer Fackel weltweit weiter tragen als Symbol von Sinnstiftung und globaler Identität.

 

Nachtrag:

 

Meine neue Wohnung in Dortmund: Jugendstilfassade. Ein altes Treppengeländer. Keine Butzenscheiben, aber Sonne, die auf Staubbahnen durch hohe alte Fenster ins große Zimmer fällt. Ein Gefühl von Glück beim Aufwachen am Morgen. Von Erkennen. Von Heimat.